Helmut Grill – Do you believe in reality?
In einer Zeit, in der Google unser Nachdenken ersetzt und Wikipedia unser Gedächtnis, wir unseren Verstand sukzessive outsourcen, und uns freiwillig und völlig willentlich in eine selbstverschuldete Unmündigkeit begeben, führt der erste Weg, einen Künstler kennenzulernen, nicht mehr in die Galerie oder in die Bibliothek, sondern ins Internet. Und wenn wir dementsprechend die Website von Helmut Grill aufrufen, steht in fetten Lettern programmatisch neben seinem Namen geschrieben: reality is irrelevant.
Was ist Realität?
Der erste Impuls beim Lesen dieser Aussage ist unweigerlich einer des Widerspruchs. Die halbe abendländische Philosophie beruht auf dem Erkenntnisgewinn aus der Wahrnehmung und der Reflexion von Wirklichkeit. Um der Behauptung auf den Grund gehen zu können, warum Realität irrelevant sein soll, und zu klären, warum diese Aussage für Grill so bedeutsam ist, dass er sie gleichwertig neben seinen Namen stellt, muss zuerst geklärt werden, was wir eigentlich unter Realität verstehen. Was heißt Wirklichkeit, was ist real?
Das, was wir gemeinhin für Realität halten, ist im Wesentlichen nur eine Interpretation des Gehirns. Wir vertrauen unseren Sinnesorganen und halten unsere Wahrnehmung der um uns befindlichen Welt schon für eine objektive Wirklichkeit. „Objektivität ist die Wahnvorstellung, dass Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden können,“ schrieb schon der österreichische Physiker Heinz von Foerster. Wir gehen an die vermeintlich „da draußen“ liegende Wirklichkeit immer mit gewissen Grundannahmen heran, die wir für bereits feststehende „objektive“ Aspekte der Wirklichkeit halten, während sie nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen. Was wir daher für real halten, hängt stark von unserer persönlichen Deutung ab, von unserem Wissen, unseren Erfahrungen und natürlich den kulturellen Prägungen unserer Wahrnehmung. Sehen heißt konstruieren! Wird Realität also nicht nur relativiert, sondern gar schon irrelevant, weil jeder sich seine eigene Wirklichkeit schafft?
Was ist mit den Grundfesten unseres Wissens, den Fakten und Tatsachen, die unsere Erkenntnisse, unsere Werte und unsere Gesellschaft konstituieren? Es galt lange als selbstverständlich, dass sie wie Zellen, Atome oder Quarks einfach „da draußen“ existieren und nur von den Wissenschaftlern entdeckt werden müssten. Der französische Philosoph Bruno Latour hat mit seinen Büchern in den 1970er- und 1980er-Jahren jedoch aufgezeigt, dass wissenschaftliche Fakten im Wesentlichen Produkte der jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungen sind, Ergebnisse von selektiven Prozessen und Interpretationen, und er hat damit Zweifel an der Unumstößlichkeit der vermeintlichen Tatsachen gesät. Als enger Verbündeter der Wissenschaften, als der er sich sieht, war er jedoch kein Türöffner für den Einfall „alternativer Fakten“, sondern er hat aus einer Ethik der Verantwortung heraus dargelegt, dass keine noch so gesicherte Erkenntnis für sich selbst steht. „Tatsachen bleiben nur so lange unzweifelhaft, wie es eine gemeinsame Kultur gibt, die sie stützt, Institutionen, auf die sich bauen lässt, wie es eine einigermaßen anständige Öffentlichkeit, halbwegs vertrauenswürdige Medien gibt.“ Diese gemeinsame Kultur einer anständigen und kritischen Öffentlichkeit scheint jedoch korrumpiert zu sein. Gewissenhafter Journalismus und integre Wissenschaft werden mit Begriffen wie „fake news“ oder „alternative facts“ desavouiert und denunziert. Fakten, Tatsachen, Wahrheiten spielen scheinbar keine Rolle mehr, sondern entscheidend ist, wer etwas am effektivsten als Realität verkaufen kann. Wir befinden uns auf dem besten Weg zu einer postfaktischen Gesellschaft, in der Tatsachen nicht mehr länger die Grundlage für politische Entscheidungen darstellen, sondern politisch opportune, aber faktisch irreführende Narrative als Basis für die politische Debatte, Meinungsbildung und Gesetzgebung dienen. Gesellschaftliche Wirklichkeit wird zunehmend dadurch determiniert, wer die Deutungshoheit in der Aufmerksamkeitsökonomie besitzt.
Mit dem rasanten Aufstieg von „alternativen Fakten“ ist klargeworden, dass es nicht vom Wahrheitsgrad oder der Richtigkeit einer Aussage oder eines Bildes abhängt, ob sie geglaubt werden oder nicht, sondern von den Bedingungen ihrer Konstruktion: wer hat sie erzeugt, wer wird adressiert und welche Institution verbreitet sie. Die Frage, die sich daher stellt, lautet: Glauben Sie an die Wirklichkeit?
Glauben Sie an die Realität?
Helmut Grill hat sich von Beginn an mit der fotografischen Bildmanipulation auseinandergesetzt. Im Auftrag der Werbung hat er über Jahre an der Konstruktion einer glatten Welt des Scheins mitgewirkt, die, befreit von jeglicher Negativität, keine Spuren der Manipulation aufweisen durfte. 1991 hat er dieser Welt den Rücken zugekehrt und sich den Spuren der Manipulation in der Konstruktion der Scheinwelt zugewandt.
Grill sucht sich sein Bildmaterial aus dem World Wide Web, erweitert es um eigene Fotografien, und verschmilzt die Darstellungen zu einem Bild, das es so noch nicht gegeben hat, das uns aber trotzdem bekannt und vertraut vorkommt. Aus Wirklichkeitsausschnitten und -fragmenten schafft er eine neue Wirklichkeit, die überzeichnet und doch realistisch wirkt, künstlich und doch natürlich, konstruiert und doch abbildhaft. Es mag einen Berg geben, der sich in einem fernen Land in dieser Form erhebt, aber sicherlich nicht mit einem Markenlogo als Gipfelzeichen – noch nicht! Es mag einen Sakralraum geben, der aus solchen Architekturelementen zusammengesetzt ist, aber sich nicht mit einem Werk von Hermann Nitsch als Altarbild – noch nicht! Und es mag einen Nachbau der Klagemauer geben mit einem paradiesischen Garten auf der einen Seite, aber nicht in Disney World – noch nicht!
In seiner kritischen Auseinandersetzung mit unserer Zeit und in seinem analytischen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen hat Grill die Fotografie, das So-wie, als Medium der Reflexion und die Möglichkeitsform, das Noch-nicht, als Art der Darstellung gewählt. Er schafft Fototableaus, die irritieren, vielleicht sogar verstören, uns in ihrer perfekten Hochglanzästhetik aber immer ihre Künstlichkeit offenbaren, ihre Konstruktion offenlegen. Die Arbeiten reflektieren in ihren scheinbar surrealen Juxtapositionen zudem unsere medialen Sehgewohnheiten. Ob man im Internet neben Schreckensmeldungen aus Kriegsgebieten Empfehlungen für exotische Urlaubsdestinationen findet, Reportagen von den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie in Südostasien durch Werbung der neuen Sommermode konterkariert wird, oder man sich auf Instagram in einer Minute durch 100 Bilder aus den Untiefen menschlicher Eitelkeiten klickt. Disparates wird wie selbstverständlich zusammengesehen, aber so gut wie nie zusammengedacht. Es bedarf wohl des Kontexts Kunst, der bewussten Inszenierung des homogenisierten Heterogenen, um die Bruchstellen, Absurditäten und Manipulationen bewusst zu machen. Von 2010 bis 2014 arbeitete Grill an der Serie der „Sceneries“, konstruierten Landschaften, die wie Kulissen wirken, im Zuge derer er jene Bildelemente entwickelte, die für die Serien in dieser Publikation prägend sind: Ruinen, Mauerreste mit Graffiti, Flugzeuge mit Schriftbannern, Berge mit markanten Gipfelzeichen, Sakralarchitekturen mit Leuchtreklamen.
Heilige Räume
Mit seiner 2015 begonnenen Serie der „Temples“ konzentriert sich der Künstler erstmals auf Innenräume. Aus architektonischen Elementen unterschiedlicher Kulturen und Epochen komponiert er Sakralräume, die in der überwiegenden Mehrzahl Spuren des Verfalls und Anzeichen des Niedergangs aufweisen, aber zum Teil auch in makellosem Glanz erstrahlen. Es lässt sich letztlich nicht eindeutig sagen, ob sich die Zerfallserscheinungen nur auf Räume beziehen, die ihr Stilvokabular aus den traditionellen, althergebrachten Religionen beziehen und nur die ohnedies eklektizistischen Bauten der neuen religiösen Bewegungen noch in unverbrauchter Pracht schimmern. Es wäre angesichts der komplexen Bild-Kompositionen von Grill wohl zu einfach gedacht, obgleich es auf den ersten Blick so scheinen mag.
In diese auratischen Räume, die ihre Konstruktion und Künstlichkeit nie verbergen, setzt er Zeichen und Produkte, die in unserer Gesellschaft durch gezieltes Marketing und Psychopolitik den Charakter von Heilsversprechungen annehmen. Der Künstler bedient sich dabei eines ausgewählten Arsenals an symbolträchtigen Elementen, das er nach dem immer gleichen System zum Einsatz bringt: Markennamen und Logos werden als Teil der Wandgestaltung harmonisch integriert oder als Graffiti inszeniert; Luxusartikel wir Prada-Schuhe oder Chanel-Handtaschen stehen wie beiläufig abgelegt in der Nähe von Kirchenbänken oder Gebetsstühlen; auf den Tischen, Bänken und in diversen Nischen finden sich Legofiguren, Barbiepuppen oder Superhelden-Figuren als Erlöser- und Identifikationsgestalten für jedes Alter; Sinnsprüche und Aphorismen an den Wänden versinnbildlichen die schnelle, marketingtaugliche Erkenntnis, statt des in die Tiefe gehenden geistigen Schürfens in den heiligen Schriften. Bei näherer Betrachtung erkennt man auch die zahlreichen, farbenfrohen schmerzstillenden oder bewusstseinserweiternden Pillen, die die Architektur zum Teil ornamental gestalten. Religion und Kapitalismus sind als Betäubung, Rausch, Sucht bzw. „Opium des Volkes“ inszeniert. Das Glaubensmotto ist immer dasselbe: „more more more“. Die Aufforderung am Damien Hirst-Altar „Please feel free“ (don’t panic, love is on the way, 2016) mutet daher geradezu zynisch an, denn die Religion des Kapitalismus ist wie jede andere auch eine Kirche der Sucht und der Abhängigkeit. Aber in der neoliberalen, postfaktischen Gesellschaft geht es ja ohnedies nur um Gefühle, Stimmungen und Emotionen.
Konsequenterweise findet sich auch eine Porno-Kapelle im Reigen der Sakralräume. Egon Schieles Gemälde „Die Umarmung“ (1917) als Altarbild ist umgeben von erotischen Tempelskulpturen aus dem Lakshamana-Tempel in Khajuraho (10. Jhdt.), Wandzeichnungen kopulierender Menschen in sämtlichen Stellungen und Konstellationen, einer Sex-Puppe als Madonna, der obligatorischen Porn-Leuchtschrift über dem Zugang zum Privatbereich der Priester, dessen Türöffnung natürlich rot erleuchtet ist und zahlreichen Kondomen am Boden. Die körperliche Vereinigung von Mann und Frau hatte von Anbeginn an auch eine spirituelle Dimension und im Zeitalter des Turbokapitalismus, in dem alles verfügbar sein muss, ist Sex oftmals der schnelle Weg zur Erlösung, denn metaphysische Gewissheiten bleiben unverfügbar. Und wieder einmal durchdringen sich Kapitalismus, Sucht und die Suche nach Stillung einer inneren Leere.
Der Gott, dem diese Tempel geweiht sind, heißt Mammon, seine Heiligen, an die man seine Fürbitten entrichtet und von denen man sich Vorteile erwartet, tragen die Namen von Luxusartikel, das metaphorische goldene Kalb, vor dem man sich ehrfürchtig verneigt, ist die moderne Kunst. In jedem Foto-Tableau hat Grill als Altarbild eine ikonische Arbeit aus der Kunstgeschichte der letzten 100 Jahre ausgewählt (einzige Ausnahme bildet die Mona Lisa von Leonardo da Vinci in der Arbeit „inhale love“ aus dem Jahr 2015): von Paul Gaguin und Gustav Klimt über Jean Dubuffet und Andy Warhol bis hin zu Damien Hirst und Anish Kapoor. Über Kunst als Religionsersatz und Museen als Kirchen und Tempel ist viel geschrieben und noch mehr diskutiert worden. Für einige Künstler wie Gerhard Richter ist Kunst wirklich „Sinngebung, Sinngestaltung, gleich Gottsuche und Religion“. Er spricht an anderer Stelle sogar davon, dass sie „nicht Religionsersatz, sondern Religion“ sei.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat kürzlich in einem Interview konstatiert: „Gott ist nicht tot! Gott mutiert zum Geld“. Agamben bezieht sich hierbei auf Walter Benjamin, dessen gesammelte Schriften er im Italienischen herausgegeben hat, der im Kapitalismus eine Religion sah. Benjamins Fragment „Kapitalismus als Religion“ beschreibt das Religiöse im Kapitalismus anhand von vier Merkmalen. Er bezeichnet ihn als „reine Kultreligion“, die „keine spezielle Dogmatik, keine Theologie“ besitze und rückt ihn damit ihn die Nähe pantheistischer Glaubensvorstellungen – es ist die unsichtbare Hand des Marktes, die alles reguliert. Der Kapitalismus kennt weiters „keinen Tag, der nicht Festtag“ wäre. Benjamin spricht von der „permanenten Dauer des Kultes“. Der kapitalistische Dauersonntag stellt eine Entfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen spirituellen Bestimmung dar, die in eine permanente Berieselung und Narkotisierung durch den Konsum und die Unterhaltungsindustrie führt. Als drittes Merkmal führt Benjamin an, dass der Kapitalismus „vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus“ ist, der versuche die ganze Welt in einen Zustand der Verschuldung zu führen. Das letzte Charakteristikum ist für ihn, dass sein „Gott verheimlicht werden muß“ und „erst im Zenith der Verschuldung angesprochen werden darf“. Es ist der Mensch selbst. Dies ist auch der Grund, warum man in Grills Bildern rund um die jeweiligen Altäre in Leuchtbuchstaben, Schriftzeichnungen oder Wandmalereien „Ich Ich Ich“ oder „me me me me“ oder ein großes „I“ für das englische „Ich“ liest. Hier manifestiert sich der Mensch als eigentlicher Gott dieser Tempel.
Heilige Mauern
Die Frage nach der Endlichkeit, nach dem, was bleibt, hat Grill von der Serie der „Tempel“, die zum Teil schon ruinöse Verfallserscheinungen aufgewiesen haben, zu den „Mauern“ geführt. Er hat sich dabei allerdings nicht einfach bekannter Mauern angenommen, wie der Berliner Mauer, der Chinesischen Mauer, der Theodosianischen Mauer oder dem Hadrianswall, sondern sich den berühmtesten Mauerrest eines Tempels auserkoren: die Klagemauer.
Die westliche Umfassungsmauer ist der letzte Überrest des Jerusalemer Tempels, des wichtigsten, jüdischen Heiligtums, das römische Truppen im Zuge der Eroberung der Stadt im Jahr 70 n.Chr. zerstörten. Obwohl sie anfangs keine religiöse Relevanz besaß, gilt sie vielen Juden heute als Symbol für den ewigen Bund Gottes mit seinem Volk. Die Mauer aus großen Steinquadern ist nicht nur ein wichtiger Ort des Gebets und eine zentrale Pilgerstätte für Juden, sondern auch ein Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt und damit Teil eines internationalen, kulturellen Konsumptionsverhalten von Orten, die man gesehen haben muss.
Grill zeigt die Mauer nun nicht in ihrem städtebaulichen Kontext oder in einer Rekonstruktion im Verbund mit dem ursprünglichen Tempel, sondern als exemplarische, heilige Mauer, die dementsprechend überall zum Einsatz kommen kann. Seit tausenden von Jahren scheint sie das Allheilmittel für jede Form des Konflikts zu sein und ist auch im 21. Jahrhundert in den Medien omnipräsent, ob als Grenzzaun oder als „besondere bauliche Maßnahme“. Der Künstler verfährt mit der ehemaligen Umfassungsmauer des Tempels nun ähnlich wie mit den Wänden seiner Sakralräume. Er appliziert Markenzeichen von Facebook oder Coca-Cola oder affichiert Plakate, deren Inhalte von der Größe des Gehirns eines Rassisten bis hin zur Aufforderung, das Leben zu genießen, weil es wahrscheinlich keinen Gott gibt, reichen. Wie jede Mauer im städtischen Bereich, ist auch die „heilige Mauer“ von Graffiti übersät, die die Vielfalt an Meinungen und Haltungen zum Ausdruck bringen. Man findet die bildlichen Darstellungen von Micky Mouse mit einer Gasmaske genauso wie vermeintlich blutige Abdrücke von Händen. Bedeutsam sind wiederum die Slogans, die Grill teils als gesprühte Schriftzüge, teils so semitransparent wie Wasserzeichen zur Darstellung bringt. Das adaptierte Zitat des Schriftstellers John Green „People are made to be loved and things are made to be used. The conclusion in this world is, that people are used and things are loved“, greift erneut das grundlegende Thema seiner Tempel-Serie auf, das auch für seine „Mauern“ zentral ist, wie noch gezeigt werden wird. Er zitiert aber auch Songtitel wie Björks „There’s more to life than this“ genauso wie das legendäre Graffiti aus Monty Python’s Flying Circus „Make tea not love“. Mit dem Verweis auf die Bibelstelle 1 Samuel 8 wird auch dem zutiefst menschlichen Wunsch nach einem König, nach einem Herrscher, der richtet und die Richtung vorgibt, Rechnung getragen. Es handelt sich um ein Stimmengewirr, das sich auf den antiken Steinquadern manifestiert, das weder klagend, noch anklagend ist, weder leidend, noch verleidend ist, sondern eine Pluralität kritischer Meinungen spiegelt.
Entscheidend für die Bedeutung der Werkserie von Grill sind die Bereiche diesseits und jenseits der Mauer, ist der Raum, den sie begrenzt bzw. abgrenzt. Vilém Flusser schreibt, dass das Wort Mauer vom lateinischen munire kommt, was „sich schützen“ heißt. Die Außenwand schützt vor der Natur und vor potentiellen Eindringlingen, die Innenwand wendet sich an „die Häftlinge des Hauses, um für ihre Sicherheit zu haften“. Doch wo ist außen und innen bei Grill? Als BetrachterIn blickt man auf die Mauer und befindet sich offenkundig diesseits der Absperrung, doch wer ist ausgegrenzt, man selbst oder diejenigen auf der anderen Seite? Und was befindet sich überhaupt auf der anderen Seite?
Auf den ersten Blick erscheint es so, als würde die Mauer die mehr oder wenige wilde Natur des Vordergrunds von der vertrauten Zivilisation des Hintergrunds trennen. Man meint die Kuppel des Felsendoms, das Schloss Neuschwanstein oder einen antiken Stupa zu erkennen. In Wahrheit handelt es sich dabei jedoch um Gebäude aus Disneyland und damit um die paradigmatische Scheinwelt und monumentalisierte Künstlichkeit schlechthin. Walter Benjamin hat in diesem Kontext von „Phantasmagorien der kapitalistischen Kultur“ gesprochen. Er hat in seinem unvollendet gebliebenen Passagen-Werk die Weltausstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt des sich rasant etablierenden Kapitalismus betrachtet (Disneyland gab es vor 80 Jahren noch nicht) und von der für die Kauflust notwendigen Schaulust gesprochen. Die dadurch entstehenden Traumwirklichkeiten „eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt. Er überläßt sich ihren Manipulationen, indem er seine Entfremdung von sich und den anderen genießt.” Die von ihm als „mythologische Topographien“ bezeichneten Traum- und Wunschwelten sind nicht nur Scheinräume, sondern im Kern Konsumräume und als solche auch Konsensräume. Der Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit globalem Herrschaftsanspruch verwandelt mithilfe der Vergnügungsindustrie die ganze Welt in ein großes Disneyland. Durch die Dauerbespaßung und die permanente mediale Ablenkung wird der Mensch sich seiner Entfremdung von sich, seinen Mitmenschen und seiner Umwelt nicht mehr gewahr und die essenzielle Frage nach seiner eigentlichen Bestimmung gerät in den Hintergrund.
Die „heilige Mauer“, die Grill in seinen Foto-Tableaus zentral ins Bild setzt, trennt nun nicht die natürliche Welt von der künstlichen, die unberührte Natur von der manipulierten. Der vermeintlich wild wuchernde Dschungel mit seinen exotischen Pflanzen und seiner paradiesischen Blumenpracht besteht aus Plastik und die seichten Gewässer, die im Vordergrund plätschern, werden über Rohre zugeleitet. Martin Heidegger schrieb, dass eine Grenze nicht das sei, „wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“ Grill zeigt uns die Mauer daher nicht als unüberwindbares Hindernis, das unser Sichtfeld ein- und beschränkt, sondern im Gegenteil als Instrument, das uns das wahre Wesen unserer Umwelt erkennen lässt. Die Bedeutung der Mauer als Element der Trennung wird dadurch nivelliert und entwertet, denn diesseits und jenseits der Grenze herrscht die gleiche konfektionierte Künstlichkeit. Die letzte Arbeit aus dem Jahr 2019 („This world is killing me slowly“) zeigt auch den Durchbruch durch die Mauer und die Erkenntnis, dass die Konstruktion von Wirklichkeit auf beiden Seiten identisch ist.
Heilige Berge
Die geradezu logische Konsequenz für Grill in seiner Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen des Sakralen ist nach den „Tempeln“ und den „Mauern“ die Flucht in die Natur. Berge gelten in vielen Kulturen als zentrale Orte, wenn es um die Symbolisierung von religiösen Vorstellungen und Kosmogenien geht. In Mesopotamien und Ägypten gibt es das Bild eines Urhügels, der sich im Anfang aus den chaotischen Fluten erhoben hat. Auf dem Berg Ararat soll die Arche Noah nach der Sintflut gestrandet sein. Berge gelten allgemein als Wohnstatt der Götter oder als Orte des Erscheinens und der Offenbarung des Göttlichen. Die zwölf Götter der griechischen Mythologie wohnten am Olymp, Amitabha, der Buddha des grenzenlosen Lichts, soll seinen Sitz am Machapuchare in Nepal haben, die Erdmutter Pachamama ihre Wohnstatt am Tunari in Bolivien und am Berg Horeb bzw. im Sinai soll Moses die zwölf Gebote von Gott erhalten haben. Wenn man an die Eremiten denkt, die ihre Einsiedeleien oftmals auf Hochplateaus anlegten, um zu beten und Gott zu suchen, so manifestiert sich darin auch der Berg als Ort der Zwiesprache mit dem Transzendenten. Viele Berge werden auch als Gottheiten personifiziert wie der Arunachala in Indien, der Kailash in Tibet, der Annapurna in Nepal, der Ampato in Peru und andere mehr.
Die Gestalt des Berges macht diesen zu einem ausgezeichneten Ort in der Natur, den wir mit Vorstellungen von Dauer, Stabilität und Ideen des Erhabenen verknüpfen. Der Begriff des Erhabenen etabliert sich als feststehende Bezeichnung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Edmund Burkes „Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Idee vom Erhabenen und Schönen“ (1757). Die Verbindung des Schönen mit dem Entsetzen und der Grunderfahrung des Schrecklichen hat jedoch eine lange Tradition. Ob in John Dennis’ “delightful horrour” oder in Moses Mendelssohns “süßem Schauer”, vom Erhabenen geht eine Ästhetik des Schreckens aus. „Bei der Begegnung mit bestimmten Naturphänomenen – nämlich solchen, die über alle Maßen groß oder über alle Maßen mächtig zu sein scheinen – gelingt es der Einbildungskraft als sinnlichem und endlichem Vermögen nicht mehr, die auf sie einstürmenden Eindrücke zu verarbeiten.“ Der Betrachter bzw. die Betrachterin wird durch das überwältigende Ereignis auf sich selbst zurückgeworfen und das einstürmende Zuviel führt zu einer Reflexion des Individuums. Es ist die Wechselwirkung von höchster Vollkommenheit und totalem Chaos, die dem Berg seit Jahrhunderten zugeschrieben wird, mit einem Vokabular, das auch zur Beschreibung des Numinosen dient. Sein Aufragen signalisiert eine vertikale Ausrichtung, die ein Unten mit einem Oben in Verbindung setzt und somit eine Beziehung zwischen Himmel und Erde evoziert. Gerade so genannte „heilige Berge“ sind daher oft mit symbolischen Markierungen ausgestattet. Gipfelzeichen haben eine jahrhundertelange Tradition, seien es Kreuze, Madonnen, Gebetsfahnen oder Obos. Dienten vor allem Kreuze anfangs als Grenzmarkierungen, wurden sie insbesondere während des 30-jährigen Krieges mit religiöser Symbolik aufgeladen. Die meisten Gipfelkreuze wurden mit dem aufstrebenden Alpinismus und der Vermessung der Gebirge im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg in Gedenken an die Gefallenen oder aus Dank für die Heimkehr aufgestellt. Die Berggipfel, die von Grill in zum Teil dramatischen Lichtsituationen inszeniert werden, sind nun nicht durch Gipfelkreuze ausgezeichnet, sondern durch die Logos von großen, internationalen Konzernen wie McDonald’s, Apple, Mercedes, Rolex, Chanel, Google oder Red Bull, die weithin sichtbar erstrahlen.
Bedeutet das McDonald’s- oder das Mercedes-Zeichen am Berggipfel nun die endgültige Verklärung dieser Marken, quasi ihre Apotheose an die Spitze eines heiligen Berges? Oder handelt es sich dabei nur um eine neue Werbestrategie, die nur eine Frage der Zeit war, um eine Marke noch sichtbarer zu machen und noch höher hinauf zu bringen? Der Begriff des Peak, des Gipfels, wird in der Diktion des Kapitalismus seit den 1950er-Jahren häufig verwendet, wenn ein Höchstproduktionsplateau erreicht bzw. überschritten wurde. Insinuiert Grill, dass der Scheitelpunkt der kapitalistische Produktions- und Lebensweise, wie wir sie bis heute betrieben haben, erreicht, der historische Kapitalismus im Zeitalter des Anthropozäns an seine biophysischen und systemspezifischen Grenzen gelangt ist? Das Flugzeug mit dem Schriftbanner, das in jedem Werk von rechts ins Bild kommt, liefert die Antwort: I declare you holy. Es geht um die ultimative Heiligsprechung kapitalistischer Aushängeschilder an den höchsten Punkten der Erde. Das Flugzeug, das die himmlische Botschaft übermittelt, fungiert als eine Art deus ex machina bzw. machina ex caelo.
Ähnlich wie in seiner Serie der Tempel und der Mauern, arbeitet Grill auch hier mit Texten, die er als Kommentar ins Bild fliegen lässt oder Graffiti-gleich in das Bergmassiv einschreibt. „Stop trying, start loving“ (mountain no. three, 2018) liest man da zum Beispiel oder „If not now, when then?“ (mountain no. one, 2018). Es ist der Aufruf zum Wandel, der in Riesenlettern am Bergmassiv prangt und uns zur Reflexion unserer Haltungen und Lebensweisen aufruft. Bei aller offensichtlichen Konstruktion und Künstlichkeit seiner Bildkompositionen, verfolgt er durch seinen Realismus und seine Detailversessenheit jedoch auch den Anspruch, dass die Darstellungen, wenngleich überzeichnet, so doch in realiter möglich sein könnten. Bei den Felsentexten stellt sich nun die berechtige Frage, wer, wenn auch nur hypothetisch, in dieser Höhe und vor allem in dieser Größe Texte auf eine Felswand schreiben könnte. Nun gibt eine legendäre Arbeit des schottischen Konzeptkünstlers Ian Hamilton Finlay, der 1987 auf dem Schweizer Furkapass die Signatur „F. Hodler“ auf einem Felsen anbringen ließ, doch diese hatte keine vergleichbare Dimension. Die Antwort stammt aus dem 6. nachchristlichen Jahrhundert und findet sich im Osten Chinas. In der Provinz Shandong haben buddhistische Mönche im Glauben an die bevorstehende Apokalypse ihre heiligen Texte in die Berge geschlagen. Ein gewisser Kaiser Wu aus der nördlichen Zhou Dynastie ließ im Jahr 574 im Norden Chinas alle buddhistischen Schriften und Klöster zerstören, um ihren Glauben radikal auszulöschen. Die Prophezeiung lautete, wenn die Schriften zu verschwinden beginnen, ist das Ende nah. In dieser Situation entschlossen sich die buddhistischen Mönche, ihre heiligen Texte nicht mehr in Tinte auf Papier niederzuschreiben, sondern in die Felsen zu hauen. Die Diamenten-Sutra auf dem Mount Tai umfasst beispielsweise eine Fläche von 2000m² mit einer Schriftgröße von 50cm. Das Gefühl der Bedrohung und der Blick ins Angesicht des nahenden Endes machen es offenkundig notwendig, essenzielle Botschaften in den Berg zu hauen.
Obgleich der Berg heute in westlichen Gesellschaften kein Ort des Heiligen mehr ist, ist er dennoch ein Ort von Wichtigkeit und Be-Deutung geblieben. Der Streit um die Gipfelkreuze, die für verschiedene Seiten ein christliches Symbol in der Natur und somit im öffentlichen Raum darstellen, belegt dies augenscheinlich. Die Mystifizierung des Hochgebirges hat zudem zu einem sehr zweifelhaften Heimatbild geführt, das in nationalistischen Verwurzelungsideologien seinen traurigen Höhepunkt gefunden hat, der bis in der Gegenwart wirkt.
Die Bergdarstellungen von Grill sind vergleichbar mit dem mythologischen Berg Meru aus der hinduistischen und buddhistischen Kosmologie, der mit vielen realen Bergen identifiziert wird, aber de facto nicht existiert. Es handelt sich um fiktive Berge, die Bestandteile von verschiedenen realen Gebirgen inkorporieren, aber in dieser Form nicht existieren, jedoch durch ihr Aussehen mythologisch aufgeladen sind und die Anmutung des Erhabenen besitzen.
Wie in den Serien davor geht es Grill um eine Ausdifferenzierung zwischen realem Raum, konstruiertem Raum und symbolischen Raum. Er will offenkundig ein Bewusstsein für die tagtäglichen Manipulationen in unserem Alltag schaffen und tut dies mit denselben Mitteln. Es geht darum, Aufmerksamkeit zu schaffen, denn sie ist der Touchpoint zu unserem Bewusstsein. Wenn es der Kunst nun gelingt, Aufmerksamkeit zu generieren und ein Nachdenken über die dargestellten Inhalte oder verarbeiteten Themen zu initiieren und im Idealfall eine Reflexion über die Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie und der Wirkungsmacht der unterschiedlichen Medien, dann wird sie zu einem Player im Spiel um die Konstruktion von Wirklichkeit.
Roman Grabner, 2019