„Think the Opposite“. Anmerkungen zu Helmut Grills „Temples“

Von Peter Lodermeyer

I. 

„Reality is irrelevant“. Dieser Satz, auf der Homepage von Helmut Grill gleich neben seinem Namen platziert, ist ein klares Statement, hart und präzise wie Hammerschlag. Wer mit digitaler Fotografie arbeitet, seine Bilder zudem aus einer Vielzahl von Einzelmotiven, Fundstücken unterschiedlichster Herkunft, zusammensetzt oder komponiert (Helmut Grill nennt sich selbst einen „Komponisten“), dem geht es nicht um die Abbildung von Realität. Das Internet als das zeitgemäße, unerschöpfliche digitale Bildarchiv bildet für Grills Kompositionen die ideale Fundgrube. Grills künstlerisches Konzept der Montage digital manipulierter Einheiten ist in gewisser Hinsicht eine Umkehrung klassischer Fotografie. Roland Barthes’ berühmtes Diktum, das Noema, sprich: der Denkinhalt der Fotografie sei ihr „Es-ist-so-gewesen“, ist untrennbar mit der Magie der klassischen Fotografie verbunden, bei der das von den Motiven reflektierte Licht reale Spuren auf der Silberschicht des Films hinterlässt. Bei der digitalen Fotografie handelt es sich nur noch dem Namen nach um Fotografie in diesem Sinne. Es ist eher deren technisch perfekte Simulation, die auf gerechnete digitale Einheiten referiert. Digitale Fotos können Pixel für Pixel konstruiert, ihre Realitätsanmutung vollständig simuliert werden.

Damit ist die digitale Fotografie eine ideale Technik für die Werbeindustrie. Dort hat Helmut Grill sein Handwerk gelernt. Aus der digitalen Manipulation von Fotos im Dienste des Schwindels namens Werbung hat er irgendwann ein Schwindel erregendes Medium der Kunst gemacht. Der fotografische Realitätseffekt ist genau das, womit Helmut Grills digitale Montagen arbeiten. Letztlich beruht dieser Effekt auf einer erlernten, von Kindesbeinen an eingeübten Kulturtechnik, Fotografien lesen bzw. decodieren zu können und sie unmittelbar auf ihre Motive hin anzuschauen, während die Materialität der Fotos selbst ausgeblendet oder zumindest zurückgedrängt wird. Selbst wenn man sehr schnell bemerkt, dass mit Grills Bildern „etwas nicht stimmt“, wenn man sich bewusst ist, dass die Gesamtkomposition kein Abbild von Wirklichkeit sein kann, sucht man als Betrachter die Bilder doch nach immer kleineren Einheiten ab, denen man Realität zutrauen kann, denen man vermeintlich vertrauen kann. Während man sich so die Bilder betrachtend aneignet, indem man versucht herauszufinden, wie die einzelnen Bestandteile miteinander zusammenhängen und wo die Bruch- bzw. Verbindungslinien zwischen einzelnen vermeintlichen Realitätsfragmenten verlaufen, wird man sich vielleicht dessen bewusst, dass sie Wahrheiten ganz anderer Art schaffen: Wahrheiten, die mehr und anderes über unsere Gesellschaft, über unseren Gebrauch kultureller Zeichen aussagen, als es die bloße Wiedergabe von Realität vermag. 

II.

Helmut Grill arbeitet in Serien. Von 2007 an entstand „The Refuge“, eine Folge von sehr merkwürdigen Häusern, Cafés, Bars, Hotels, Bordellen und Gebäuden unklarer Bestimmung, hinter deren Fassaden rätselhafte und unheimliche Dinge zu geschehen scheint, eine Art psychologisch abgründiger Black Boxes. Die Landschaftsräume, in denen sich diese Gebäude befanden, wurden bald zu eigenen Bildthemen. Die bisweilen panoramatisch ausgebreiteten Kulissenräume der „Sceneries“, die von 2011 bis 2014 entstanden, spielen mit den Erwartungen, Idealisierungen und Fantasiebildern einer unberührten Natur, die enttäuscht werden, weil sie bei Helmut Grill imprägniert bzw. kontaminiert sind von zahlreichen Zeichen der Alltagskultur, der Werbe- und Konsumwelt. Mit seiner neuen, 2015 gestarteten Serie „Temples“ konzentriert sich der Künstler nun erstmals auf Innenräume – und zwar auf Innenräume, die eine größtmögliche inhaltliche Aufladung mit sich bringen: verlassene, säkularisierte Kirchenräume (oder auch aus Einzelelementen in teils abenteuerlichem Stilmix zusammenmontierte Pseudo-Kirchenräume), die – zumindest scheint es so auf den ersten Blick – von jeder religiösen Symbolik entleert sind. Fast alle diese Räume weisen mehr oder minder starke Anzeichen von Verfall auf: Putz bröckelt von Wänden und Decke, Schmutz liegt auf Boden und Kirchenbänken, Pflanzenwuchs zeigt sich in den Fensternischen, eine von Rissen durchzogene Glasdecke droht bald einzubrechen. Zwar ist kein Mensch in diesen Räumen zu sehen, jedoch gibt es genügend Zeichen von deren Anwesenheit, so als hätten sie die Räume nur kurz verlassen und könnten jeden Moment zurückkehren. Brennende Kerzen, Gegenstände, die in den Räumen, auch auf den entweihten Altären, platziert wurden, lassen an seltsame, eher unheilige Rituale denken: Micky-Maus-Figuren und Barbiepuppen, immer wieder High Heels, Objekte aus dem Sexshop, miniaturisierte Kunstwerke, dazu vergessene oder zweckentfremdete Bischofsstäbe. Je länger und genauer man sich die Bilder anschaut, desto mehr Details und Zeichen tauchen auf. Wände, Böden und Teppiche sind oft mit Logos von Modefirmen und mit Graffitis, Aufklebern und Parolen versehen. Sprachzeichen, Kurztexte, meist plakativ wie Sprüche auf Motto-T-Shirts, oder Zitate von Songtexten und Bandnamen („fuck ART, let’s dance“) sind z. T. wie mit Geheimtinte auf die Wände geschrieben. Man bemerkt sie meist erst nach mehrmaligem Hinschauen. Die prominentesten, in den Mittelpunkt der „Temples“-Bilder gerückten kulturellen Zeichen aber sind Kunstwerke, Gemälde oder Objekte bekannter Künstler, die an die Stelle der verschwundenen Altarbilder gerückt sind.

III.

Alle Arbeiten der „Temples“-Serie sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Stets fällt der Blick frontal auf eine Stirnwand der Kirchenräume, meist die Wand auf der Altarseite. Der symmetrische Bildaufbau und die starke Sogwirkung der zentralperspektivisch zulaufenden Sichtachsen schaffen eine deutliche Fokussierung auf die in der Mitte platzierten Kunstwerke (eine Ausnahme ist „Us is the Future“, dort hängt über dem Altar ein skurriler Knochenkandelaber, wie er tatsächlich in der „Knochenkirche“ im tschechischen Kutná Hora zu finden ist). Es handelt sich dabei überwiegend um Gemälde der Klassischen Moderne bzw. der Gegenwartskunst: Bilder z. B. von Egon Schiele und Gustav Klimt, Jean Dubuffet, Andy Warhol und Jean-Michel Basqiuat, oder aber um Kunstobjekte wie ein Exemplar aus Damien Hirsts „Pharmacy“-Serie oder einen von Anish Kapoors typischen farbigen Konkavspiegeln. Interessant ist, dass in den „Temples“ nur ein einziges Gemälde vorkommt, das so etwas wie einen ikonischen „kunstreligiösen“ Status besitzt, nämlich die Mona Lisa, die sich im Zentrum des Bildes „Inhale Love“ befindet. Ihr steht auf einem rot gepolsterten Hocker – gleichsam als Stellvertreter des Betrachters – die Rückenfigur einer Micky Maus gegenüber; ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Mona Lisa längst selbst zu einer Ikone der Popkultur geworden ist. Über ihr, in der Kalotte der Apsisnische, prangt ein wie mit nasser Farbe gezeichnetes Chanel-Logo. Überwachungskameras, stilisierte Charlie-Chaplin-Köpfe, die auf Miniaturformat geschrumpfte Skulptur „Balloon Flower“ von Jeff Koons, ein in die Breite verzerrter Mini-Hitler – die Fülle und Heterogenität der Zeichen in diesem Bild ist verwirrend und lässt sich nicht ohne Weiteres in einen plausiblen Zusammenhang bringen. Am Beispiel von „Inhale Love“ wird deutlich, dass die Arbeiten von Helmut Grill nicht wie ikonografische Rebusse funktionieren. Selbst wenn man alle in den Bildern versteckten Motive und Symbole gefunden und identifiziert hat, heißt das keineswegs, dass sich dadurch ihre Bedeutung wie von allein erschließt. Das Inkonsistente, die Verwirrung, das Disparate sind ein unabdingbarer Teil ihrer künstlerischen Strategie. Die Bilder gehen nicht auf wie eine mathematische Gleichung, sondern stellen aufgrund der Unvereinbarkeit der einzelnen Elemente immer wieder neue Fragen. Helmut Grill hat dazu in einem Künstlerinterview alles Nötige gesagt: „Eine Gemeinsamkeit, die sich über alle Arbeiten erstreckt, ist, dass ich lieber Fragen stelle als Antworten liefere. Und ich glaube, das erreicht man auch dadurch am besten, dass das Bild ein Geheimnis in sich birgt und nicht alles erklärt wird, sondern der Betrachter gefordert ist nachzudenken, was da eigentlich zu sehen ist.“

IV.

Denken wir also nach. Kann man die „Temples“ nicht am ehesten als eindringliche Bilder für die schwindende Fähigkeit des christlichen Glaubens deuten, in unseren zeitgenössischen, postindustriellen, postmodernen, spätkapitalistischen, auf- und abgeklärten westlichen Gesellschaften noch eine verbindliche Sinnstiftung zu garantieren? Vor allem in Europa werden zahlreiche Kirchengebäude säkularisiert, geschlossen, im Internet versteigert, in Bars, Buchhandlungen, Diskotheken umgewandelt. Allein in den Niederlanden, dem Spitzenreiter dieser Entwicklung, werden mehr als 100 Kirchen pro Jahr von ihrer religiösen Funktion entbunden. Und deutet die Tatsache, dass im Zentrum der „Temples“ jeweils Kunstwerke hängen, nicht unverkennbar darauf hin, dass die Kunst in unserer Zeit längst einen pseudoreligiösen Stellenwert eingenommen hat? Das Sinnvakuum, das der Bedeutungsverlust der Religion hinterlässt, wird durch Surrogate gefüllt: Oberster Wert ist das Geld, das in Form von Münzen, Scheinen oder Dollarzeichen immer wieder in den „Temples“ auftaucht. Damit unmittelbar verbunden ist der Konsumismus als kapitalistische Ersatzreligion (darauf deuten die in fast jedem der „Temples“ auftauchenden Logos von Luxusmarken wie Louis Vuitton oder Yves Saint Laurent) und nicht zuletzt die Absolutsetzung des Ichs. „ICH ICH ICH“ steht rechts auf der Wand einer Hallenkirche an einer Stelle, wo im Kreis die Symbole sämtlicher Weltreligionen und politischen Weltanschauungen aufgeführt sind. „I am VIP“ verkündet die titelgebende rote Leuchtschrift an der Stirnwand. Und als sei die Botschaft nicht schon überdeutlich, wird durch Inschriften an Stirnwand und Altarschranke mit selbstreferenziellem Wiederholungszwang bekräftigt: „me me me me me… it’s all about me“.

V.

Ein weiteres Thema neben Kunst, Konsum, Geld und Ego ist: Sex. High Heels, Kondome, Sexspielzeug, mit rosa Fell gepolsterte Handschellen – es finden sich in den „Temples“ zahlreiche Anspielungen auf diese Thematik. Am offensichtlichen geschieht dies in „Kneel here“, das einen stark heruntergekommenen Kirchenraum zeigt, auf dessen mit Graffitis in Englisch und Khmer bekritzelter Chorschranke einige der berühmten erotischen Skulpturen des hinduistischen Kandariya-Mahadeva-Tempels platziert sind. Deren Amalgamierung von Sexualität und Religion wird mit zwei Statuen, der perversen Mischung aus Madonna und Sexpuppe, blasphemisch in einen christlichen Kontext übersetzt. Das gesamte Gebäude ist über und über mit pornographischen Wandzeichnungen übersät, am Boden verstreut liegen bunte Kondome. Die Leuchtschrift „porn“ und das Hinweisschild „sexit“ locken den Betrachter in einen wenig verlockenden, von Rotlicht erleuchteten Hinterraum. Der pornographische Kultraum ist untrennbar von der Trostlosigkeit der verkommenen Architektur geprägt. Wie ein Ort fröhlicher, von christlichem Sexualpessimismus befreiter Libertinage sieht er jedenfalls nicht aus. Das prächtigste Detail des Raumes ist noch ihr „Altarbild“, Egon Schieles ins Hochformat gedrehte, goldgerahmte „Umarmung“ von 1917.

VI. 

Wer die „Temples“ aufmerksam betrachtet, wird feststellen, dass die religiöse Symbolik keineswegs vollständig aus diesen Kirchenräumen getilgt wurde, wie es auf den ersten Blick schien. In „More, more, and more“ sieht man in der Apsis, hinter einem Porträtbild des chinesischen Malers Zhang Xiaogang, ganz blass einen Teil eines byzantinischen Mosaiks aufscheinen. Man weiß nicht, ob es gerade verschwindet oder geisterhaft wieder auftaucht. Oberhalb des „Altarbildes“ erkennt man den Christus Pantokrator und den abgekürzten griechischen Christusnamen JC XC. Im Zusammenhang mit dem traurigen Konterfei des Chinesen wird so plötzlich deutlich, dass dessen Porträtform, der frontale Blick auf das Gesicht, nicht nur ein westliches, sondern vor allem ein spezifisch christliches Bildschema übernimmt. Die Frontaldarstellung des Gesichts war in der christlichen Kunst lange Zeit allein Christus vorbehalten, ein Schema von „Gesichtlichkeit“, wie es Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch „Mille Plateaux“ pointiert beschreiben: „Das Gesicht ist Christus, das Gesicht ist der typische Europäer…“

Ein weiteres Anzeichen religiöser Symbolik scheinen die kleinen weißen Wölkchen zu sein, die in sechs der dreizehn „Temples“ als Innenraumwolken schweben wie auf den Fotos des niederländischen Künstlers Berndnaut Smilde. Die Wolke ist eine uralte Erscheinungsform des Göttlichen. Insbesondere im Alten Testament finden sich zahlreiche Textstellen, die davon sprechen, wie sich Gott in Form einer Wolke zeigt und zugleich verhüllt. Ein beliebiges Beispiel sind die Geschehnisse bei der Einweihung des Tempels, den König Salomon erbauen ließ: „Da aber die Priester aus dem Heiligtum gingen, erfüllte die Wolke das Haus des HERRN, dass die Priester nicht konnten stehen und des Amts pflegen vor der Wolke; denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus des HERRN“ (1. Könige 8, 10-11). Die Wolken in den „Temples“ hingegen sind klein und schweben ganz dicht unter der Decke. Deuten sie auf einen letzten verbliebenen Rest göttlicher Präsenz in den gottverlassenen Gotteshäusern? Gegen jede Beleuchtungslogik sind sie von oben angestrahlt wie von einem übernatürlichen Licht – mit einer Ausnahme: Auf einem der Bilder fällt ein gelbliches Licht aus einem Schacht im Kirchenboden und bestrahlt die Wolke von unten her. Der Titel des Bildes gibt Aufschluss: „De Sade sends a light from down there“. Was für ein Licht ist das, das der „göttliche Marquis“ hier ausstrahlt? Das Licht der Aufklärung? Der Widerschein des Höllenfeuers down there? Im Hintergrund erkennt man Textfragmente aus de Sades berüchtigtem Buch „Die 120 Tage von Sodom“ und an den Rundpfeilern ein bemerkenswertes Memento mori: das berühmte Rattenmotiv des englischen Street-Art-Künstlers Banksy, das jedoch eine signifikanten Veränderung aufweist. Statt der Worte „you lie“ trägt das von der Ratte empor gehaltene Schild die Worte „you die“. 

Ein Kirchenraum, der dem Marquis des Sade, dem Erzatheisten und Blasphemiker, geweiht ist – ist das die ultimative Umwertung christlicher Werte? Doch wie passt dazu das „Altarbild“, Gustav Klimts „Der Kuss“ von 1908/09, dessen innige, liebende Verschmelzung von Mann und Frau de Sades von Trieb und Macht geprägtem Konzept von Sexualität diametral entgegensteht? Auf den Wandstücken des Mittelschiffs oberhalb der Arkadenbögen stehen in spiegelbildlichen Großbuchstaben, links in Englisch, rechts in Deutsch, die Worte „Denk das Gegenteil“, eine wörtliche und typographische Anspielung auf das Buch „Whatever you think, think the opposite“ des amerikanischen Werbe-Gurus Paul Arden. Diesen Ratschlag sollte man beim Betrachten von Helmut Grills „Temples“ unbedingt beherzigen. Was man in diesen komplexen und widersprüchlichen Arbeiten sieht, hängt unvermeidlich auch vom eigenen religiösen bzw. philosophischen Standpunkt ab. Es ist beim Betrachten dieser Verfremdungen christlicher Kulträume nicht unerheblich, ob man den nicht zu bestreitenden Bedeutungsverlust des Christentums in unseren Gesellschaften als ein Unglück betrauert, ihn distanziert und nüchtern als Tatsache registriert oder aber emphatisch begrüßt. Wie jedes relevante und gelungene Kunstwerk erlauben die „Temples“ neue, ungewohnte Sichtweisen. Es ist eine faszinierende Erfahrung beim Betrachten dieser durchaus provokanten Bilder, seinen eigenen Standpunkt zu reflektieren und dann – sei es auch nur für einen Moment – das Gegenteil zu denken.