Margit Zuckriegl

Zwischen Hoffnung und Leidenschaft

Häuser zwischen Nacht und Tag, an der Schwelle des Lichts zur Morgendämmerung oder zum Verblauen der Abendstimmung, in der Grenzzone zwischen öder Steppe und romantischer Bergwelt – die Zufluchtsorte von Helmut Grills Refuge-Serie sind zwiespältige Orte voll Geheimnis und Magie. Sie sind Bilder von fundamentaler Unsicherheit – bedeuten sie doch einerseits das eingelöste Versprechen,  andererseits den dräuenden Alptraum . Sie irrlichtern zwischen Hope und Passion, zwischen Hoffnung und Leidenschaft; in einer Zeit, die von wirtschaftlichen Krisen und politischen Hoffnungsplatitüden geprägt ist, in der humane Verantwortung zugunsten von Gier und Egoismus über Bord geworfen wird, verlöschen gesicherte Wert wie eine ausgeknipste Neonschrift. 

The Refuge meint die Zuflucht, einen Ort, an dem man sich sicher fühlen kann; meint auch die Almhütte am Fuß der Bergkette, das Schutzhaus im Gebirge. Die Lokalitäten in Grills Immobilienkosmos sind jedoch anderer Natur; sie spielen mit der Bedeutung, die an ihnen klebt wie ein schlecht montiertes Etikett, eine verwischt aufgebrachte Graffiti-Schrift und führen gleichzeitig die damit verbundenen Konnotationen in die Irre: nicht das, was man zu sehen meint, ist der Inhalt des fotografischen Bildes. Der Fotokünstler Helmut Grill macht sich die Sicherheit der Wahrnehmung zunutze, um deren Abgründe aufzudecken.  Er bedient sich einer vermeintlich eindeutig lesbaren Bildsprache, um den Betrachter in eine Falle zu locken: nicht das, was man sieht, ist das wirkliche Bild, sondern das, was zwischen dem Bild und dem Sehen liegt. Helmut Grill bearbeitet ein weites Feld, auf dem Sehnsüchte und Angstvorstellungen, Erfahrungen und Visionen gedeihen, ein sehr persönliches Areal der eigenen subjektiven Bildervorräte, die jeder mit sich herumträgt, und auf die jeder in anderer Weise zurückgreifen kann. 

Hier ist auch das Ideal einer perfekten Naturdarstellung angesiedelt oder die Vorstellung von einer sicheren Heimstatt, der Wunsch nach einem romantischen Gefühl, einer beglückenden Empfindung und einer behüteten Zuflucht. Die Idylle, also! Sie ist der Ort, den schon das 18. Jahrhundert an das Ende der Reise durch die Unbill des realen Alltagslebens gestellt hat, der Fluchtpunkt von Sehnsucht und Innerlichkeit. 

Die „Idyllen“ des Helmut Grill weisen all die dafür erforderlichen Merkmale auf: romantische Gegend in unberührter Natur,  einsame Lage jenseits der Hektik des Alltags, magisches Leuchten in abenddunklen Gärten, mit allen Attributen, die dem gestressten Menschen des 21. Jahrhunderts Heimeligkeit vermitteln; sanft erleuchtete Fenster, verschneite Wäldchen, warm strahlende Laternen, altmodisches Backsteinmauerwerk und eine Häuschentypologie, die aus seligen Märklin-Eisenbahn-Kindertagen herüberreicht. Doch all die merkwürdig konstruierte Idyllik  wird fundamental irritiert durch die Bezeichnungen der Häuser: handelt es sich um verruchte Bars oder zwielichtige Stundenhotels, um Vorstadtbordelle oder verräterisch  camouflierte Spionagetreffs? Wie aus einem Katastrophenfilm übriggeblieben stehen diese Gebäude – menschenleer und unbehaust. Meistens sind sie Hotels oder Cafés, also Orte des temporären Aufenthaltes, hier wohnt niemand, hier bittet niemand einen Gast herein, hier schreit eine Neonschrift einen griffigen Namen in die Gegend: American Dream, Hotel Passion, Café Heaven. Das Versprechen ist eine Drohung: wie in Hitchcocks „Psycho“ lauert etwas Ungewisses hinter der Fassade des dunklen Motels, wie in Ang Lees „Icestorm“ spielt sich in stürmischer Nacht Unerklärliches im Haus der Gastgeber ab. 

Helmut Grills Refuges sind Chiffren für die vielfältigen medialen Botschaften, denen wir ausgesetzt sind, für die schnellen Versprechungen und tiefen Verunsicherungen, und für die Täuschungen, die uns dennoch, oder gerade deshalb, immer wieder Zuflucht zu den utopischen Sinnbildern des Idyllischen nehmen lassen. Sie sind zudem Ironisierungen dieser einfachen Wünsche, Abenteuer und Risiko mit Kitsch und Romantik unter einen Hut bringen zu wollen, anrüchige Erotik mit biederer Heimatfilmästhetik  zu verschmelzen, bisher Unvereinbares vielleicht sogar in einer zynisch stilisierten  Utopie zu amalgamieren, wie die islamisch definierte Architektur des Café Europa vor Augen führt, welche einer vom Minarettstreit gebeutelten »Mir-san-Mir«-Mentalität einen hinreißend schönen Spiegel vorhält. Und sie sind Ausdruck der Lust am Spiel mit irritierenden Gegensätzen und überraschenden Effekten.

Grills Fotografien werden vielfach kombiniert und digital manipuliert, Vorlagen werden zeichnerisch und malerisch bearbeitet, neuerlich eingelesen und ausgeprintet; sie bewegen sich wie die inhaltlichen Konnotationen in einem Zwischenbereich des Hybriden und Prekären: jederzeit bereit zur Veränderung, nie sicher in der Zuordnung. Dazu baut Helmut Grill noch Modelle nach seinen fotografischen Vorlagen: das Überführen des planen Bildkonzepts in eine dreidimensionale, gleichsam skulpturale Gestaltung erweitert den Realitätscharakter seiner „Gebilde“; reale Materialien wie Holz, Metall, Verputzmasse, Neonröhren sind dazu angetan, den Wirklichkeitsbeweis anzutreten: das Banale an sich erhöht den magischen, irrealen Eindruck des Konstrukts. Grill schöpft aus einem virtuellen Fundus an Versatzstücken, die er aus dem Internet, aus Filmen, aus früheren Fotografien, aus computergenerierter  Malerei und aus dem unendlichen Bildervorrat der Kunstgeschichte entnimmt.  Er versieht seine vielfach codierten Szenarios oft noch mit Zitaten aus der Kunstwelt oder aus dem marktschreierischen Milieu der Kunstauktionen: das am teuersten verkaufte Kunstwerk der Welt in einem anrüchigen Vorgarten? Jeff Koons Häschen als einziger Bewohner der verwunschenen Idylle? Die fröhlich bunten Graffitis von Keith Haring an einem Haus, in dem „alles passiert sein kann“, wie Helmut Grill sagt, „in dem alles verschwinden kann, wie aufgesogen, so wie vieles verschwiegen wird oder nicht zu sehen ist. Auch die Lehr des griechischen Philosophen Epikur wurde von der lustfeindlichen katholischen Kirche zum Verschwinden gebracht, in meinem Hotel Kepos  lebt der Garten des Epikur wieder auf“ – ein Gartenhaus mit zugeklappten Fensterläden, allerdings, isoliert in einer wüstenartigen Landschaft, eine Platz eben, zwischen Hier und Dort, zwischen Nacht und Tag,  zwischen Hoffnung und Leidenschaft.