Dana Altman

Portraits nicht existierender Menschen

Für den unwissenden Betrachter ist Helmut Grills neues Werk lediglich eine weitere Portrait-Reihe, Männer und Frauen vor der Kamera. Bei einem Blick auf die offenen Bilder könnte man es seltsam finden, dass die Augen des einen oder die Mundkonturen des anderen einen schwach an eine andere Person erinnern, und die quälende Frage bleibt im Hintergrund: an wen erinnern uns diese Leute? Eine nähere Untersuchung der scheinbar konventionellen Porträts zeigt eine Art von disharmonischer Kohärenz, das Ergebnis der Tatsache, dass nur Fragmente der Gesichter vertraut sind, während das ganze Bild eine beunruhigende und gespenstische Qualität besitzt, die auf den ersten Blick schwer zu definieren ist. Grills “Fotografien” sind weiter von konventionellen Portraits entfernt als man zunächst vermutet hat. Es sind nicht nur digitale Bilder, es sind Collagen von Gesichtsfragmenten, die zufällig online ausgewählt wurden. Aber sie wurden nach einem bestimmten Algorithmus zusammengesetzt, auf der Suche nach einem Ausdruck der Schönheit, unabhängig von Rasse, geographischen Herkunft oder Alter. Der Künstler beginnt in der Regel damit, einen Hintergrund und eine Kontur zu wählen, und füllt dann das Puzzle mit Teilen, die auf der Grundlage seiner persönlichen ästhetischen Entscheidung zu passen scheinen. Manchmal ist die Perspektive auch leicht verändert, was zu diesem unheimliche Gefühl beiträgt; Makeup, Beleuchtung und andere Einstellungen tragen zum finalen Ergebnis bei.

Das 19. Jahrhundert präsentierte Fotografie als einen vornehmlich dokumentarischen technischen und dann künstlerischen Prozess. Die Dinge haben sich seit damals drastisch verändert, und die Entwicklung der Technik brachte unter anderem mit sich, dass wir von solchen “Fotografien”, Bildern überflutet werden, die ohne eine Spur zu hinterlassen verändert wurden, nur um neue und oft fragwürdige Darstellungen zu erstellen. Man hätte annehmen können, dass die Probleme und Fragen der neuen Medientechnologien einen unausgesprochenen digitalen ethischen Code forderten, um Fragen der Privatsphäre, Rechte, Grenzen und Standards zu behandeln, die dennoch unausgesprochen blieben. Die Tatsache, dass Bilder von Kulturgütern oder Reality Darstellungen online weit verbreitet erhältlich sind, hat langsam, aber stetig zu der unvermeidlichen Proliferation von derivativen Produkten geführt: Künstler oder allgemeine Benutzer nehmen manchmal kleinere Änderungen vor und übernehmen die digitale Aufbereitung über einen collagenhaften Prozess in größere Werke. Die weit verbreitete Existenz von digital bearbeiteten Bildern wirft in erster Linie Authentizitäts- und Urheberschaftsfragen auf, und redefiniert gleichzeitig stark die Bedeutung des Mediums an sich. Die Umstellung von Analog auf Digital bedeutet nicht nur den Fortschritt auf neuere Erfassungs- und Ausgabemethoden, sondern auch eine Bestätigung von etwas, was dem traditionellen Kunstwerk inhärent war, nämlich dass die künstlerische Vision diejenige ist, die das Ergebnis beeinflusst. Die Methode ist dennoch subtiler, da wir immer noch an den dokumentarischen Wert glauben, während uns etwas präsentiert wird, das vollkommen ein Produkt der Phantasie und erworbenen Technik einer Person ist. Plötzlich ist die so genannte ‘Realität’, die anscheinend dokumentiert ist, nicht die Realität, die wir kennen, nach der wir fiktive Diskurse schaffen, sondern ein anderer fiktiver Diskurs, der uns betrügt mit seiner vermeintlichen Authentizität, nur um etwas vollkommen anderes zu präsentieren, in einem ewigen Mise-en-abyme, verewigt in die Unendlichkeit.

Die ideale Person, die wir eventuell in Grills Fotografien treffen können, ist in Wirklichkeit eine Reihe von Bytes, das Ergebnis der Vorstellungskraft eines Künstlers, der sein eigenes Schönheitsideal kreiert hat. Ist es dieses frei erfundene Bild, das eventuell unser Leben in der Zukunft beeinflusst, referenziert oder nicht? Wie kann der Betrachter sicher sein, dass das Bild, das er oder sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sieht, nicht manipuliert worden ist, da digitale Bilder spurlos geändert werden können? Wie können wir so sicher sein, dass wir das Gesicht auf dem Cover eines Magazins, das über Nacht vielleicht zum weltweiten Schönheitsideal für Tausende wird, eine reale Person ist, statt eines weiteren digital veränderten Gesichts, mit Airbrush Falten und anderen Änderungen, die grundsätzlich Aspekte und Elemente verändern, die eventuell genau die Details sind, die eine Persönlichkeit definieren? Heutzutage ist Perfektion in der Beziehung mit einem Bild fraglicher denn je, und das Basieren individueller Wahrnehmung auf solche Quellen erhöht exponentiell die Enttäuschung und Frustration, da, ganz gleich was wir am menschlichen Gesicht tun, wir niemals die Fertigkeit eines Computers hinsichtlich des Löschens von etwas erreichen, das per gesellschaftlicher Konventionen als Fehler definiert wird.

Plastische Chirurgie ist alltäglich geworden, wie auch die Körper- Verbesserungstechniken, wie etwa Fettabsaugung, und uns allen wird gelehrt, dass Perfektion ganz leicht erreicht werden kann, ohne dass gesagt wird, dass die ‘Person’, die wir als unser Modell benutzen, in der Tat nur ein weiteres verbessertes Bild in einem ewigen Spiel ist, wo die neueste Kopie das Original wird. Eine Reihe von Zeitschriften haben auf ihren Titelblättern  absichtlich veränderte Bilder als eine Aussage über die Gesellschaft abgebildet, in der wir alle leben, während andere ganze Kolumnen dem Änderungsprozesses widmen und darauf hinweisen, wie viele der ihren Lesern als ‘real’  präsentierten Bilder tatsächlich solche Produkte sind. Wir könnten ziemlich schnell an einen Punkt gelangen, ein Ideal zu schaffen, das jedoch tatsächlich lediglich ein Phantom ist, oder eher eine weitere zufällige Kombination und Anordnung von Daten, die wenig oder nichts mit der realen Person zu tun hat, die eventuell als Basis gedient hat. Dieses Phänomen ist der Ausdruck der Zeit, wenn die Illusion die Welt des Absoluten betritt ohne Verzicht auf seinen Anspruch, die Welt abzubilden, um Theodor Adornos Worte zu benutzen.

Heute ändern mehr und mehr Personen aus purer Eitelkeit und dem Streben nach Perfektion ihr Erscheinungsbild, ständig durch die Gesellschaft getrieben, die Bedürfnisse schafft, nur um eine schnelle Lösung zu liefern. Cloning, obwohl immer noch eingeschränkt in Bezug auf Zugang und Kosten, wurde bereits von der Wissenschaft entmythologisiert, und einige sind bereit, für die Duplizierung ihres Lieblings-Haustiers zu zahlen. Von hier bis zur Erstellung des perfekten Kindes gibt es nur noch einen logischen Schritt, und man muss die Entscheidung zur vollkommenen Kontrolle der Natur und der (Er)Zeugung nach strengen Gentechnik-Algorithmen in Frage stellen. Was passiert, wenn eine Mutation eintritt, wenn das Produkt nicht genau so ist, wie man es erwartet hat? Kann die Menschheit eine perfekte biometrische und genetische Kontrolle über sich selbst ausüben und darüber hinaus verantwortlich sein für die Folgen, falls etwas schief geht? Der Fall von genetisch manipulierten Pflanzen, die natürliche Pflanzen bestäuben, ist nur eine wenn auch weitgehend ignorierte Warnung, dass sich potentiell genetisch manipulierte Organismen der Kontrolle entziehen könnten und nur Mutanten züchten, deren Struktur eventuell schwieriger zu ergründen und zu kontrollieren ist.

Die heutige Gesellschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einem digitalen Universum, und es scheint nur einen Schritt von der Veränderung eines Bildes zur Veränderung seiner echten Referenzen zu bestehen, um eine neue Realität zu schaffen. Es ist eine Welt, die ständig in Bewegung ist, in dem Informationen gehandelt, übertragen, angeeignet, verändert, heruntergeladen und hochgeladen werden und die Datenketten endlos laufen. Es wurde eine vielfältige Terminologie geschaffen, um den Bereich der digitalen Welt besser beschreiben zu können, der sich von Computertechniken zu einem umfassenden kulturellen Phänomen entwickelt hat, darunter Hypermedia oder Hybridisierung, und die Terminologie spiegelt den Versuch wider, die Herausforderung der digitalen Technologien zu begreifen und zu kategorisieren. Der Computer ist eine Medienmaschine, und sowohl auf einer makro-sozialen als auch auf einer künstlerischen Ebene hat es eine Verlagerung hin zu computervermittelten Formen der Produktion, Verteilung und Kommunikation gegeben. Dies ist der Moment, wenn die Simulation die Transformation ersetzt, denn die grundlegenden Unterschiede wurden tatsächlich in dem codierten Bild gelöscht, und die Photoshop-Layer manifestieren die Auflösung des Sachlichen. In diesem Informationskreis müssen wir in der Lage sein, unseren eigenen Weg zu schützen / verteidigen und zu entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen, denn sonst kann uns der Nexus an Orte führen, die wir vielleicht nicht kennen wollen. Die Antwort, die die Cheshire-Katze Alice auf die Frage gibt “Welchen Weg soll ich von hier nehmen?” gilt mehr denn je: “Das hängt viel davon ab, wohin du gehen möchtest”1. Und die persönlichen Entscheidungen haben viel mit unserer eigenen Vorstellung von der Wirklichkeit zu tun und wie wir zu ihr stehen.

Grills neue Arbeit, die das Medium der Fotografie an sich durch die Betonung in Frage stellt, wie Technologie die primäre Bedeutung eines dokumentarischen Mediums untergraben kann, ist ein mächtiger Diskurs über die Welt, in der wir leben. Die Bildänderung führt in eine Wirklichkeit, die alles sein kann, was wir möchten, vorausgesetzt, wir haben genügend Werkzeuge, um die Schöpfung zu vollenden. Wir können immer in unsere eigene Show eintauchen, wie in Ray Bradburys interaktivem TV von Fahrenheit 451, ohne seine Fiktionalität zu erkennen. Sein neues Kunstwerk repräsentiert eine ausdrückliche Erklärung, wie alles möglich gemacht werden kann, um die unwissenden End-User zu manipulieren, in einem zunächst virtuellen Raum, der dazu gedacht ist, am Ende den reellen auszutauschen.

1Die kompletten illustrierten Werke von Lewis Carroll, Chancellor Press, London: 1982, p. 62

Dana Altman

New York